Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen spricht den zu Unrecht angeklagten Arzt frei!
Verteidigung ist immer auch ein Kampf gegen ein mit der Anklageerhebung gefasstes Vor-Urteil!
Von Albert Einstein stammt der Satz, dass es leichter ist, einen Atomkern zu spalten als ein Vorurteil.
Wie schnell ein solches Vorurteil entsteht und auf welch unsicheren Fakten es beruhen kann, zeigt der in vor dem AG Garmisch-Partenkirchen verhandelte Fall in erschreckender Weise:
Ohne die Anzeige der Kassenärztlichen Vereinigung zu prüfen hat die Staatsanwaltschaft einen niedergelassenen Neurochirurgen wegen angeblichem Abrechnungsbetrug angeklagt. Der Vorwurf lautete, der Kassenarzt hätte bei sieben durchgeführten medizinischen Behandlungen vorsätzlich falsche Gebührenziffern des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes abgerechnet, um sich rechtswidrig zu bereichern.
Weder Polizei noch die Staatsanwaltschaft haben diese Angaben überprüft. Am 19.07.2010 vermerkte der zuständige Staatsanwalt, es sei nicht zu erwarten, dass eine Durchsuchung der Arztpraxis zum Auffinden von Beweismitteln über das bereits jetzt Nachweisbare führen würde, da über die Vorwürfe bereits Verhandlungen zwischen der KVB und Arzt stattgefunden hätten, bei denen aufseiten des Beschuldigten auch ein Rechtsanwalt eingeschaltet gewesen sei. Damit wird schlichtweg unterstellt, dass aufgrund der Einschaltung eines Rechtsanwaltes Beweismittel vernichtet werden. Eine ungeheuerliche Behauptung!
Der Staatsanwalt fertigte die Anklage ohne die Stellungnahme des Verteidigers abzuwarten.
Der weitere Verfahrensgang beim AG Weilheim ergibt sich aus dem Nichtigkeitsbeschluss des OLG München vom 17.07.2013 der im Augustheft des Strafverteidigers vollständig veröffentlicht ist (siehe auch Aktuelles "Nichtigkeit eines Strafurteils aufgrund Absprache / Deal"). Aufgrund eines rechtswidrigen Deals verbunden mit der Sanktionsschere - ohne Geständnis Vollzugsstrafe von 3-4 Jahren, bei Geständnis Bewährungsstrafe - wurde der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten mit Bewährung verurteilt.
Das AG Garmisch-Partenkirchen, an das die Sache zurückverwiesen wurde, stellte nach Durchführung einer „umfangreichen Beweisaufnahme“ fest, dass der angeklagte Arzt bei sechs medizinischen Behandlungen seine Leistungen mit den von ihm verwendeten Gebührenziffern abrechnen durfte und deshalb nicht mehr davon ausgegangen werden konnte, „dass die Abrechnung objektiv unrichtig (Herv.d.Verf.) ist“. Soweit in dem übrig gebliebenen Fall eine falsche Gebührenziffer verwendet wurde, schloss das Gericht einen Vorsatz aus, weil der Arzt und sein Personal davon ausgegangen sind, dass sie diese Ziffer verwenden durften. Die Beweisaufnahme ergab, dass sich der Arzt wegen dieser Ziffer bei der Kassenärztlichen Vereinigung erkundigt hatte und dort die Auskunft erhielt, er könne mit dieser Ziffer abrechnen, sollte es nicht richtig sein, würde dies mit dem nächsten Richtigstellungsbescheid korrigiert.
Überflüssig und völlig unverständlich sind allerdings die Ausführungen in den schriftlichen Urteilsgründen des AG Garmisch-Partenkirchen, dass der Richter in Weilheim in seinem Urteil vom 24.05.2011 „nachvollziehbar und gut vertretbar“ zur Auffassung gelangen konnte, dass der Betrugstatbestand in objektiver (und subjektiver) Hinsicht erfüllt war. Bedenklich sind auch die Ausführungen, dass aus juristischer Sicht das Vorliegen des subjektiven Betrugstatbestandes nahe gelegen habe, während bei „lebensnaher Betrachtung aufgrund einiger neu zutage getretener Indizien sowie dem Gesamteindruck des Angeklagten in der Hauptverhandlung (das Gericht) im Ergebnis nicht zu der Überzeugung gelangte, dass der Angeklagte bedingt vorsätzlich handelte.“
Das OLG hat die Nichtigkeit des Weilheimer Urteils damit begründet, dass das Amtsgericht seiner „für den Strafprozess grundlegenden Pflicht zur Aufklärung des wahren Sachverhalts und der Schuld des Angeklagten erkennbar bewusst nicht (Herv. d. Verf.) nachgekommen und sich hierzu tatsächlich keine eigene Überzeugung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung nach § 261 StPO, also kein `eigenes Urteil´ (Herv. d. Verf.) gebildet hat, sondern lediglich die bereits im Zwischenverfahren getroffene ´Verständigung´ ohne jegliche Nachkontrolle (Herv. d. Verf.) ihrer inhaltlichen Richtigkeit in ein formales Urteil umgesetzt hat, wobei - wie ausgeführt - nicht einmal sicher ist, dass die beteiligten Schöffen über die tatsächlichen Hintergründe informiert worden sind.“ In § 261 StPO steht, dass das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung entscheidet.
Der Richter in Weilheim hat keine Beweisaufnahme durchgeführt. Seine Entscheidung beruht deshalb nicht auf dem Inbegriff der Verhandlung, sondern allein auf der Anklage, die wiederum nur auf den ungeprüften Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung beruht.
Dies bestätigt einmal mehr den von Schünemann festgestellten Forschungsbefund, dass der Richter durch die Aktenkenntnis, durch den Eröffnungsbeschluss de facto eine Parteistellung erlangt, die ihn an einer optimalen Informationsverarbeitung hindert und ihn „stattdessen weitgehend auf die Marschroute der Ermittlungsakten festlegt, die in der Regel einseitig, nämlich kaum von der Verteidigung, sondern ganz überwiegend nur von der Polizei beschickt werden und deshalb ein aus der Polizeiperspektive gezeichnetes und dadurch objektiv selektiertes Tatbild widerspiegeln.“
Nach den Feststellungen des OLG München ist das Urteil des AG Weilheim vom 24.05.2011 „nichtig und damit unwirksam und unbeachtlich“. Für das AG Garmisch-Partenkirchen hätte also gar keine Veranlassung bestanden, das Urteil des AG Weilheim zu beachten und zu kommentieren.
Die Ausstellung des „Persilscheins“ für seinen Richterkollegen in Weilheim lässt vielmehr besorgen, dass der Richter in Garmisch den Inhalt des OLG-Beschlusses und dessen Bedeutung entweder nicht zur Kenntnis genommen oder sich darüber hinweg gesetzt hat.
Durch den aufgrund eigener Überzeugungsbildung, ohne Rücksichtnahme auf die vorangegangene Verurteilung in Weilheim, erfolgten Freispruch hat das AG Garmisch-Partenkirchen verloren gegangenes Vertrauen in die Unabhängigkeit der Richter zurückgewonnen. Durch den völlig überflüssigen Hinweis auf das nichtige Urteil in Weilheim hat es leider das Vertrauen in die Justiz wieder etwas zerstört. Schade!